Kapitel 1

Die Scheinwerfer des alten Fords erhellen kaum die buckelige Straße, die sich wie ein gebogener Finger in die Nacht bohrt, durch die ich so schnell fahre, wie die ächzenden Achsen es tolerieren. Jede zottelige Fichte und einzelnen Stein kenne ich. Obwohl die Dunkelheit den hügeligen Landstrich in Schwärze hüllt, sehe ich die von Wäldern und grünschimmernden Seen durchzogene Natur vor mir, mit ihren Wundern, die für immer in meinen Erinnerungen konserviert sind. 

Es ist paradox, Gott muss diesen Ort lieben, so viel Anmut hat er in ihn gelegt, und wie um dieser Schönheit Widerspruch zu verleihen, liegt nicht weniger Schrecken in ihr. Licht und Dunkelheit haben einen Pakt geschlossen, sie bedingen einander, um existieren zu können.
 
Einmal mehr drehe ich den Kopf zum Beifahrersitz. Die dunklen Umrisse der Pistole heben sich vom cremefarbenen Velours ab. Sie scheint darauf zu warten, mir Ruhe zu verschaffen und den Schmerz zu beschwichtigen. Doch bei ihrem Anblick zieht sich mir das Herz zusammen und meine Hände umschließen das Lenkrad fester. Zorn übermannt mich, unbeherrschbar und mit ihm Ohnmacht. Ein vertrautes Empfinden. Als wäre ich wieder ein Kind.
 
Wie Dominosteine fallen, und immer Weitere umwerfen, ist das Unglück unabwendbar gewesen. Hätte nur ein Stein den Lauf unterbrochen. Wären andere Worte gesagt worden, weniger oder mehr Zeit verstrichen, ich wäre vielleicht in der Lage gewesen aufzuhalten, was geschehen ist. Wo hat die Katastrophe ihren Anfang genommen? Bin ich es gewesen, der den ersten Stein aus dem Gleichgewicht gebracht hat? Sind die anderen gefallen, weil ich ein törichtes Kind gewesen bin?
 
Gesichter flimmern wie Traumgebilde über den Nachthimmel. Meine Mutter lächelt und streckt die Hand nach mir aus. Mein Bruder Trond blickt mit versteinerter Miene auf mich herunter. Beide lösen sich auf. Nun sehe ich Oma Jonnas gütiges Gesicht und meinen kleinen Bruder Caj. Mit ausgestreckten Armen läuft er auf mich zu, seine Augen leuchten, sein Mund ist groß und rund vor Freude. Ich will ihn auffangen, festhalten und nie wieder loslassen. Erinnerungen fluten mich mit solcher Wucht, dass ich das zarte Gewicht meines Bruders in meinen Armen spüre. 
 
Zuletzt zieht das Gesicht meines Vaters über den lichtlosen Himmel und ich drücke fester aufs Gaspedal. Es gelingt mir nicht, das aufsteigende Schluchzen einzuschließen. Aber bei Gott, ich will nicht weinen. Nicht mehr. Meine Brust zieht sich zusammen, ich kann nicht atmen. Panisch stoppe ich den Wagen, stoße die Tür auf und sauge den Duft von Kiefern und feuchtem Moos ein.
 
Fluchtartig renne ich in den Wald, stolpere in der Dunkelheit über Wurzeln und schlage auf dem rauen Untergrund auf. Eine Waldrohreule stößt schrille kwi-kwi-kwi-Rufe aus und fliegt aufgeschreckt von meinem Erscheinen in die Nacht. Ich rapple mich hoch, jage immer tiefer ins Dickicht. Wie Ohrfeigen schlagen mir Äste ins Gesicht und hinterlassen brennende Schrammen. Doch etwas drängt mich und ich laufe haltlos weiter, bis ich erneut stürze und der Aufprall mir die Luft aus der Lunge presst. Kraftlos bleibe ich auf dem Bauch liegen und kralle die Finger ins nachtfeuchte Moos, zwinge mich zu atmen. 

Plötzlich begreife ich, was mich hierher getrieben hat. Etwas, vor dem ich mich fortwährend wie abgrundtief gefürchtet habe. Doch ich muss ihn hören, seinen Schmerz vernehmen und mich mit ihm verbinden, dieses eine Mal. »Bitte«, sage ich flehend und warte auf eine Antwort. Es ist mein eigenes Schluchzen, dass mir wie aus weiter Ferne in die Ohren dringt. »Wo bist du?« Ich halte den Atem an und horche in die Schwärze des Waldes. »Aber du bist doch hier«, rufe ich.

Es bleibt still.

Niedergeschmettert taumle ich zum Wagen, lehne den Kopf gegen das Lenkrad und weine. Warum?
Wieder taste ich nach der Pistole, lege die Hand um das kalte Metall und fühle ihr enormes Gewicht, wie eine Ermahnung. Es ist utopisch, sie zu halten und gleichzeitig ihren Zweck auszublenden. Mit den Fingern zeichne ich jede Kurve und Erhebung nach, wiege sie hin und her, wende den Blick auch dann nicht ab, als meine Augen flimmern und meine Hände zittern. Ich werde alles zu einem Ende bringen und den letzten Stein umwerfen.

Entschlossen starte ich den Motor und fahre weiter. Wehmütig suche ich die goldenen Augen in der Finsternis des Waldes, trete wie von Sinnen auf die Bremse, weil ich sie zu erkennen glaube. Es sind nur Fantasiegebilde.

Mit jedem Meter, den ich durch die Nacht jage, gießen sich Bilder vor mir aus, als würde ich in sie hineinfahren, mein Zuhause den Hof Gundersen sehen, ihre Stimmen hören, in mein junges Ich stürzen und mich darin verfangen. 

Lerne Evens Familie kennen, die mit ihm am Gutulia Nationalpark in Norwegen lebt.

Even Gundersen

Ich liebte den Hof

und all unsere Tiere, die uralten Fichten, Seen und Flüsse, von denen wir hier am Gutulia-Nationalpark, umgeben waren. Ich mochte den würzigen Duft des Waldes und der Moore, war verrückt nach den wildwachsenden Blaubeeren, wanderte auf die steilen Hügel, von denen ich die atemberaubende Landschaft überblicken konnte und mich frei fühlte. 

Das alles hatten wir Großvater Magne zu verdanken.

Oma Jonnas Stimme bekam immer einen wehmütigen Klang, wenn sie von ihm sprach, doch ebenso häufig lachte sie, sobald sie von ihm erzählte. »Ach Magne«, sagte sie dann, wischte sich über die Augen und lächelte.

Oma Jonna Hagen

Oma räusperte sich.

»Hör gut zu, denn was ich dir erzählen werde, klingt wie eine Fabel, Even. Und wenn ich fertig bin, kannst du dich entscheiden, ob du es für eine halten möchtest.« Sie lachte mit rauer Stimme und nickte mir zu. 

»Früher haben die Menschen in der dünn besiedelten Provinz Innlandet und jene, die an der Grenze zu Schweden gewohnt haben, von Varg, dem Wolf erzählt. Er soll immer in Erscheinung getreten sein, wenn geliebte Menschen dem Tod nah gewesen seien. Geheult habe dieser Wolf, als wäre er tief bekümmert und tagelang habe seine traurige Melodie durch die Wälder gehallt, bis jemand gestorben ist.«

Reidun Gundersen

Um nichts auf der Welt

konnte ich mir vorstellen, dass meine Mutter aufgebracht war, weil das Essen kalt wurde. Sie war immer ruhig geblieben, auch, als Trond sich vor einigen Wochen die Hand in der Stalltür geklemmt hatte und sie sich erst befreien ließ, nachdem mein Vater die Tür zerlegt hatte. 

Meine Mutter hatte kein Geschrei veranstaltet, stattdessen meinem Bruder fest in die Augen gesehen und mit unerschütterlicher Stimme gesagt: »Sieh mich an, Trond, atme langsam in den Bauch, alles wird gut.« Obwohl ihm Tränen übers Gesicht liefen, waren seine Schmerzensschreie verstummt. 


Während ich auf seine blauverfärbten Finger gestarrt hatte, aus denen lange Bindfäden Blut tropften und Panik in mir aufstieg, war es ihr gelungen, ihn zu beruhigen.
 

Stumm starrte ich auf die leeren Teller, während Oma Caj das Gesicht mit einem Lappen abwischte. 

Unüberhörbar tat meine Mutter, was Oma vorhergesagt hatte, sie ließ den Ärger raus, lautstark und mit Worten, die ich sie nie vorher hatte sagen hören. Dazwischen erklang die Stimme meines Vaters, noch lauter als ihre: »Was zum Teufel hat dieses Miststück gewollt?«

Stellan Gundersen

Fragend hob mein Vater

die Hand in meine Richtung. Ich zuckte mit den Achseln, als wüsste ich nicht, warum kein Fisch anbiss. Nach einer weiteren halben Stunde knotete ich schließlich eine beige Eintagsfliege an, da sich der Ausflug allmählich dem Ende neigte. Beim dritten Wurf biss eine Forelle an.
»Hej was hast du drangemacht?«, brach mein Vater das Schweigen und beeilte sich, zu mir zu kommen.
»Die ersten Eintagsfliegen sind geschlüpft«, murmelte ich.
»So früh schon?« Er drehte den Schirm seiner Cap in den Nacken, zog die Dose mit den Kunstfliegen aus der Angelweste und wechselte den Köder.

Es dauerte keine Viertelstunde, da lagen vier große Forellen im Korb. Gutgelaunt wanderten wir zurück, meine Mutter briet sie und dazu gab es Kartoffelsalat.
»Sagt, wer hat sie gefangen?«, wollte sie wissen. Ihr Blick wanderte neugierig zwischen uns hin und her, als wir am Tisch saßen.

Schweigend sah ich zu meinem Vater.
Er schüttelte den Kopf. »Dein Sohn, und zwar alle vier.«
»Tut mir leid«, sagte ich hinter vorgehaltener Hand, damit er das breite Grinsen nicht sah.

»Tut es nicht, du Schlitzohr.«

Trond Gundersen

Nichts wünschte ich

mir mehr, als einen kleinen Bruder zu bekommen. Alles würde ich ihm zeigen, meine Lieblingsplätze im Wald, wie man Fliegenköder band und die Stellen, wo man die größten Forellen im Fluss fing. Abenteuer würden wir gemeinsam erleben. Endlich wäre ich der große Bruder und hätte einen Freund zum Spielen. Natürlich wäre ich viel netter, als mein Bruder Trond, der schon fünfzehn war und oft sagte, ich solle aufhören, zu nerven. Unsere Eltern wünschten sich ein Mädchen, zwei Rabauken seien ihnen genug. 
Trond hatte das Gesicht verzogen, »Noch so ein Schreihals?«, gemault, mich mit zusammengekniffenen Augen angesehen und mir in den Bauch geboxt.
»Ich bin kein Schreihals, Blödmann«, hatte ich gemurmelt und versucht, ihm in die Nase zu kneifen. 
Blitzschnell hatte er den Arm gehoben und meine Hand gepackt. »Aber wie du das bist, und ein saudumm schwätzender Papierfresser obendrein.«
Die Neckerei über eine meiner Vorlieben konnte er sich selten verkneifen. Er hasste Bücher und ich liebte sie, seit ich fünf Jahre alt war. Vielleicht ärgerte ihn, dass ich früh zu lesen begonnen hatte, während er sich noch immer schwertat, Buchstaben zusammenzufügen. 

Trond war anders, doch ich schaute zu ihm auf und liebte ihn. Er sah gut aus, mit den halblangen Haaren, die er nach hinten gegelt trug, war bärenstark und viel netter, als er tat.

Caj Gundersen

Mein kleiner Bruder Caj

war inzwischen drei Wochen und vier Tage alt. Er lag in der Babywippe auf dem Küchentisch und schlief. Er mochte es, wenn er sich mitten im Trubel befand, wo gelacht und erzählt wurde. 

Stundenlang konnte ich ihn anblicken, und jeden Tag schien er etwas anders auszusehen, die winzigen Bäckchen runder, die Augen neugieriger. Alle küssten ihn ständig oder knabberten an seinen Zehen. Selbst Trond war in ihn vernarrt und meine Mutter schalt uns manchmal, ihn in Ruhe schlafen zu lassen. 

Aber besonders schien ihn mein Vater zu lieben. Oft sah ich ihn mit Caj im Arm über den Hof spazieren und ihm alles zeigen. Manchmal saß er im Hofladen hinter dem Tresen, die Hand schützend um das kleine Köpfchen gelegt, den Blick in die Ferne gerichtet, leise Melodien summend. 

Ohne, dass mein Vater es bemerkte, sah ich ihm dabei zu und liebte beide auf eine Weise, die mein Herz brennen ließ.

Caj gehörte so sehr zu uns, als wäre er schon immer hiergewesen. Seit er geboren war, lächelten alle öfter und wenn ich es mir recht überlegte, stimmte ich Oma Jonna zu. Er war so kurz vor Weihnachten auf die Welt gekommen, er musste ein himmlisches Wesen sein, zumindest hatte sie so etwas gesagt.

Even Gundersen

Mit Caj in den 

Armen huschte ich in die Küche. 
Trond warf mir einen warnenden Blick zu und drehte den Kopf in Richtung unseres schlafenden Vaters.
Was nun? Mein kleiner Bruder brauchte dringend eine frische Windel, bestimmt war sein Hintern schon rot wie ein Krebs. Ich musste es wagen und ging auf Zehenspitzen am Sofa vorbei, die knarrenden Stufen zum Kinderzimmer hoch, als Caj anfing zu weinen. 
Vater hörte auf zu schnarchen und kratzte sich über den mit Sauce bekleckerten Bart.
Erschrocken legte ich die Hand auf den Mund meines kleinen Bruders und drückte ihn gegen meine Brust. Er verstummte. Das Schnarchen setzte wieder ein und ich atmete aus. Leise bewegte ich mich die letzten Stufen hinauf, als mein Vater plötzlich aufschreckte und ein Wimmern ausstieß. 
Trond machte Handzeichen, dass ich im Zimmer verschwinden sollte.
Einen Moment danach erwachte Vater und brüllte: »Was lungerst du hier im Haus herum? Hast du den Stall ausgemistet?«
»Das habe ich heute Morgen erledigt, aber du schläfst ja schon seit Stunden. Es ist bereits dunkel, doch das interessiert dich ja nicht.« Tronds Stimme triefte vor Wut.
Erschrocken hielt ich den Atem an und begriff nicht, warum mein Bruder wagte, so etwas zu sagen. Ich hockte mit Caj oben auf dem Bett und wusste, was jetzt geschehen würde. 

Wir erwachten

Runi Karlsen

in einem Bett aus Moos. 

Runi setzte sich auf, ordnete ihre Haare und wischte sich über das Gesicht, auf dem es sich kleine Bröckchen Erde gemütlich gemacht hatten. Sie sah mich an und lächelte verlegen.

Wir hatten die Nacht unter Sternen verbracht. Hand in Hand waren wir, berauscht vom Sternenhimmel, nie gesagten Worten und der Nähe zueinander eingeschlafen. 

 

Wann hatte ich zuletzt so viel Frieden gefühlt? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

Ich sah Runi an und staunte über ihre Anmut. Sie war eins mit dem Wald und seiner Schönheit. Ihr rotblondes Haar bestand aus ineinander verschlungenen Bäumen und feinen Ästen, die ihr Gesicht wie zum Schutz umrahmten. Das Kinn hochgereckt, die Lippen entspannt und ihre Nase war so anmutig wie der weich geschwungene Stamm einer Fichte. Tautropfen hingen an ihrem zierlichen Hals. 

Schweigend musterte sie mich.

In ihren Augen erkannte ich alles: die vielen klugen Gedanken, Sehnsucht und Hoffnung, eingefasst in Bernstein. 
 

O Runi.

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte prüfen Sie die Details und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.